Zumutung Schulmediation?!

Die Schulmediation ist im Aufschwung und in der Krise zugleich. Die Zahl gut ausgebildeter Schul- und SchülermediatorInnen geht in die Tausende, die Nachfrage nach Ausbildung ist zumindest dort ungebrochen, wo es finanzielle Unterstützung gibt – und zugleich stagniert in vielen Schulen die Nachfrage nach Mediation, oder die Projekte schlafen sogar ein.
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Die Schulmediation ist im Aufschwung und in der Krise zugleich. Die Zahl gut ausgebildeter Schul- und SchülermediatorInnen geht in die Tausende, die Nachfrage nach Ausbildung ist zumindest dort ungebrochen, wo es finanzielle Unterstützung gibt – und zugleich stagniert in vielen Schulen die Nachfrage nach Mediation, oder die Projekte schlafen sogar ein.

Nun kann man dies auf Geld-, Zeit- und Kräftemangel, fehlende Anerkennung und Unterstützung, bisweilen auch unzureichende Ausbildung und Vorbereitung der SchulmediatorInnen zurück führen. Und auf der Ebene des Wollens und Handelns – der sichtbaren Handlungen, der Spitze des Eisbergs – sind diese Faktoren auch immer wieder zu finden.

Dies darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, welch tief greifende Verunsicherung Mediation immer in das System Schule hineinträgt – auch wenn sie gut vorbereitet und sorgsam eingeführt wurde.

Meine These:
Auf der Ebene des Denkens und Fühlens hängt die Krise der Schulmediation auch mit der Sichtweise auf Konflikte (und Normverletzungen) zusammen, die MediatorInnen einnehmen. Denn MediatorInnen
  • sehen Verantwortliche statt Schuldige
  • streben Ausgleich und Versöhnung an statt Strafe
  • sehen unterschiedliche Beteiligte mit ihren Interessen und Bedürfnissen statt richtige und falsche Absichten.

Das hat Folgen:

  • Wer über einen längeren Zeitraum regelmäßig mediiert, gewöhnt sich eine immer größere Vorsicht an, was die Beurteilung scheinbar offensichtlicher Sachverhalte anbelangt. „Wer hat angefangen?!“ „Dem Max traue ich einiges zu, er war bestimmt auch diesmal nicht unschuldig; ich kenne doch meine Pappenheimer!“ „Mit ein bisschen Druck kriege ich schon heraus, was wirklich passiert ist!“ und ähnliche vertraute Herangehensweisen an Konflikte unter SchülerInnen haben für MediatorInnen ausgedient.
  • Schon manche Mediatorin hat festgestellt, dass sie am Ende einer gründlichen Mediation sogar die „gemeinsten“ oder „hinterhältigsten“, „brutale“ und „üble“ Verhaltensweisen verstehen konnte. Allparteilichkeit und Verzicht auf „Wahrheits“suche führen dazu, dass auf einer Ebene hinter den sogenannten Fakten „Wahrheit“ gefunden wird – genauer gesagt: so viele Wahrheiten wie Konfliktbeteiligte!
  • Die Beweggründe für ein Verhalten, das andere verletzt oder geschädigt hat, verstehen zu können, bringt neue Einsichten darüber, wie Heranwachsende „funktionieren“, was ihre Werte und Wünsche und wo ihre Grenzen sind.
II
  • Die MediatorInnen selbst sind verunsichert und können in einen inneren Konflikt geraten. Das persönliche Wertsystem gerät womöglich ins Wanken; manches relativiert sich, Neues kommt hinzu. Wie steht es um „Richtig“ und „Falsch“ bezüglich der von mir, meinen KollegInnen, den Verordnungen und Gesetzen aufgestellten Normen und Bewertungsmaßstäbe?

    Will ich, kann ich dieser Art, das „Richtige“ durchzusetzen, (noch) zustimmen? Entwicklungschancen für die eigene Persönlichkeit sind in diesem inneren Konflikt angelegt. Unter Umständen wächst der Fortbildungshunger. In manchen Fällen gibt Mediation den entscheidenden Anstoß zur kritischen Distanzierung gegenüber, oder gar zum Bruch mit dem tradierten System Schule. Oder zur Suche nach Alternativen wie Montessori- oder Waldorfpädagogik. Oder zur Kreation neuer Schulen, in denen „Erziehung, die das Leben bereichert“, statt findet. 1
  • Unabhängig von, jedoch meist zeitgleich mit ihrer eigenen Verunsicherung tragen SchulmediatorInnen Verunsicherung in die Schule hinein. Sie muten anderen Systemmitgliedern etwas zu: Im Rahmen von Mediation wird auf das Punkten, Bewerten und Beschließen verzichtet.2 Und dies innerhalb eines Systems, in dem stündlich, täglich, über Jahre hinweg das Verhalten von Menschen nach den Kriterien „richtig – falsch“ und „gut – schlecht“ bewertet wird! In dem Fünfen und Sechsen zum Ausschluss von weiterer Schulbildung führen. In dem Menschen als gute und schlechte/schwache SchülerInnen klassifiziert werden…
III

Diese Zumutung birgt ein erhebliches Konfliktpotenzial. Beispiele für Konfliktquellen bei und nach der Einführung von Schulmediation:

  • LehrerInnen, die es gewohnt sind, unerwünschtes SchülerInnen-Verhalten mit Rache zu beantworten (Note in Sozialverhalten herabsetzen; vom Klassenausflug ausschließen), werden frustriert, zumindest aber irritiert, wenn Max und Attila sich in der Mediation „bloß“ auf Wiedergutmachung und gegenseitige Vergebung geeinigt haben. Was wird aus dieser Irritation/Frustration? Wo nimmt sie sich ihren Raum? Gibt es einen sicheren Rahmen für Aussprachen über diese Irritation? Können die betroffenen LehrerInnen sie als eine Differenz über pädagogische Werte sehen, oder sind sie als Personen verletzt?

1 Titel eines Buches von Marshall B. Rosenberg, Paderborn 2004. Im Herbst 2005 findet die erste Tagung in Deutschland statt, die die Chancen und Perspektiven einer Gründung von Schulen auf Basis der Gewaltfreien Kommunikation thematisiert (Informationen: www.gewaltfrei-niederkaufungen.de).

2 Hier ist das Bewerten von Verhaltensweisen durch die MediatorInnen gemeint; selbstverständlich wird auch in der Mediation bewertet und beschlossen – z.B. bewerten die Teilnehmenden ihr eigenes und das Verhalten ihrer Kontrahenten, die Lösungsvorschläge usw.


  • LehrerInnen, die bisher zwischen ihren SchülerInnen Konflikte geregelt haben, werden in dieser Funktion tendenziell „arbeitslos“. Das bringt Arbeitsentlastung mit sich. Und weniger direkte Kontakte mit einzelnen SchülerInnen. Und damit weniger Gelegenheiten, die helfend-versorgende Seite der eigenen Persönlichkeit auszuleben; einer Seite, die die meisten LehrerInnen stark entwickelt haben und die eine wesentliche Rolle in ihrer beruflichen Motivation spielt.

Wohin mit diesem brach liegenden Potenzial? Sehen die KollegInnen ihre Entlastung als Vorteil und nehmen ihn an? Artikulieren sie daneben ihren Wunsch, sich vermehrt anderweitig mit ihren SchülerInnen zu befassen?

  • LehrerInnen, insbesondere solche in Leitungsfunktionen, und auch SchülerInnen und Eltern sind es gewohnt, dass Entscheidungen per Abstimmung oder durch noch schlichteren Einsatz von Macht getroffen werden. Sie müssen sich angesichts des Konsensprinzips in der Mediation fragen (lassen), wie sie die Koexistenz dieser beiden konträren Prinzipien innerhalb desselben Systems akzeptieren, vertreten oder auch nur verstehen sollen.

Welche Schlussfolgerungen ziehen die unterschiedlichen Mitglieder der Schulgemeinde aus dieser Koexistenz? Halbherzige Unterstützung der Mediationsidee? Wunsch nach Verwässern der Mediationsgrundsätze wie Freiwilligkeit oder Vertraulichkeit? Unernsthaftigkeit – Mediation als Spielwiese für die Heranwachsenden?

IV

Was aus solchem Konfliktpotenzial wird, hängt davon ab, wie entwickelt die Konfliktkultur der einzelnen Schule ist. Auf jeden Fall entstehen Friktionen. Werden diese nicht wahr- und ernst genommen, so können sie in der Tat zu einem Erlahmen des ursprünglichen Elans bei der Implementierung von Schulmediation führen. Auf subtile Weise, schleichend, ohne offen zu Tage tretende Konflikte – und um so schwerer
erkennbar. Gewährt man ihnen jedoch die nötige Aufmerksamkeit, so können sie als Chance dienen, einen völlig neuen Dialog über elementare pädagogische Fragen zu beginnen – über Strafe und Erziehung, über die Vermittlung von Werten und über die Vorbildfunktion von Erwachsenen.

Ich plädiere dafür, diesen Dialog aufzunehmen, und möchte alle Beteiligten, insbesondere SchulmediatorInnen und andere Förderer und Förderinnen der Schulmediation, dazu ermutigen. Die „Gefahr“ bei diesem Dialog: Ganz ohne PISA-Studien3 könnte man zu ähnlichen Ergebnissen kommen, wie sie diese quasi als Nebenprodukt mit lieferten: Denn es scheint, als ob systematische Auslese auf der einen und freie Entwicklung sozial kompetenter, emotional intelligenter Wesen auf der anderen Seite einander ausschließen…

Ariane Brena 2004


3 SchülerInnen, die über viele Jahre zusammen unterrichtet und nicht nach „Leistung“ sortiert wurden, und SchülerInnen, die von Anfang an in kooperativen Lern- und Arbeitsformen trainiert wurden, zeigten deutlich mehr Können und Wissen auf den getesteten Gebieten. Vgl. z.B.: „Was die Schule von der Polis lernen kann –
Die Laborschule Bielefeld ist anders.“ Frankfurter Rundschau vom 14.11.2002; „Mut fürs Leben mitgeben – Das norwegische Bildungssystem schafft ausgezeichnete Leistungen, ohne Schüler nach Handicaps zu sortieren“. Frankfurter Rundschau vom 19.09.2003; „Ja zur Heterogenität! Eine Konsequenz aus PISA – und eine Aufgabe für die Lehrenden.“ Pressemitteilung der GEW vom 03.06.2002. Siehe auch Allan Guggenbühl: Die PISA-Falle.
Freiburg 2002

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